Die heutigen Kommunikationsbeziehungen sind im Gegensatz zu den vergangenen Jahrhunderten total umstrukturiert. Wir leben im Spannungsfeld von Distanz und Gleichzeitigkeit.
Das Problem der Distanz ist für die kirchliche Arbeit zum Grundproblem gegenwärtiger Existenz geworden. Aus überschaubaren Orts- oder Stadtteilgemeinden sind komplizierte, schwer abgrenzbare
Sozialgebilde geworden, Verstädterung der Dörfer, Zersiedlung der Landschaft, Betonburgen und Eigenheime, um nur einige Schlagworte zu nennen, beschäftigen uns schon seit Jahrzehnten. Die Menschen
haben sich selbst und ihre Lebensgewohnheiten radikal verändert: Wir sind äußerst mobil geworden, denken in größeren und andersartigen Räumen, in Auto- und Flugstunden, wo es früher um Tagesreisen
ging. Arbeiten, Wohnen und die Freizeitgestaltung können sich an völlig verschiedenen Orten abspielen. Wir sind immer auf Achse im überwinden von Distanz, haben aber trotzdem das Gefühl, nie wirklich
an der Sache dran zu sein.
Räumliche, kulturelle und soziale Distanzen summieren sich in der Kirchengemeinde zu schier unentwirrbaren Problemknäueln. Distanz zur Kirche, zum Gottesdienst, zum Glauben an Gott manifestiert sich
in erster Linie als Distanz zur Ortsgemeinde. Überwindung von Distanz muss also zuerst da einsetzen, wo das Problem besteht, beim Verlust personaler Beziehungen im lokalen Bereich der Gemeinde.
Direkte Kommunikation der Gemeindeglieder untereinander lässt sich nicht durch die indirekte Kommunikation der Medien ersetzen. Distanz wird durch die elektronischen Medien nur scheinbar überwunden.
Sie führen im Grunde zur Isolation des Einzelnen und nicht zur Integration in einer Gemeinschaft. Dazu wäre noch eine Menge zu sagen. Ich kann diesen Punkt hier nur anschneiden. Wichtig erscheint mir
die Konsequenz: Überwindung der Distanz im lokalen Kommunikationsbereich der Ortsgemeinde kann in erster Linie nur durch Partizipation erreicht werden. Es geht also um Teilhabe auf allen Feldern
gemeindlichen Lebens, von Bibel- und Gebetskreisen, über Kindergruppen, den Besuchsdienst, Männertreffs, Kirchencafé und Seniorenaktivitäten. Überall zählt, das Kirche mit ihren Haupt- und
Ehrenamtlichen „unterwegs“ zu den Menschen ist. Ich sage es hier einmal deutlich, das Gottesdienst-Team ist keine isolierte Einheit, um die Besucherzahlen zu erhöhen. Die Erneuerung des
Gottesdienstes ist auch keine Marketingmaßnahme, um uns dann beruhigt zurück zu lehnen und uns in 20% mehr Teilnahme am Abendmahl zu sonnen. Es geht darum, durch die Vielfalt der Beteiligten das Echo
des Gottesdienstes in die ganze Gemeinde zu tragen, auch zu Kranken, Alten, Dauerarbeitslosen und in die ganz normalen Familien, die sich von der Kirche abgenabelt hatten.
Neben der Erfahrung der Distanz prägt unser Leben die ungeheure Gleichzeitigkeit des Geschehens. Alle Weltprobleme können durch die elektronischen Medien in den eigenen vier Wänden „erlebt“
werden. Wir sind „live“ dabei, egal, ob Sport, Krieg oder Katastrophen. Wir sehen die Bilder im Fernsehen und haben das Gefühl, neben dem Reporter zu stehen. Wir surfen im Internet und bekommen
permanent die neuesten Katastrophenmeldungen aus allen Erdteilen. Via Satellit und Breitbandkabel erleben wir, was rund um die Welt vorgeht. Die Tendenz der Medien, hauptsächlich das „Auffällige“,
Negative zu übermitteln, die Sensationen, nicht das Alltägliche, hat bei vielen Menschen zu Abwehrreaktionen geführt. Sie können und wollen diese „schlimmen Bilder“ von Krieg und Hunger nicht mehr
sehen. Die Potenzierung von Leid ist nicht mehr real erfahrbar, nicht mehr personal nachvollziehbar.
Entpersönlichtes Leid führt zur Frustration. Nur wo es gelingt, das Element der Gleichzeitigkeit in personale Erfahrung umzusetzen, kann wirkliche Kommunikation gelingen. Das bedeutet für den
Gottesdienst, empirische Daten müssen konkretisiert werden, sonst wirken sie abstrakt und bleiben wirkungslos. Die mediale Erfahrung der Gleichzeitigkeit muss adäquat für den Gottesdienst umgesetzt
werden, d.h. über Hunger und Krieg muss an nachvollziehbaren Beispielen gesprochen werden. Die partikularen Elemente der Information sind wichtig. Ein präzises Beispiel ist wichtiger als tausend
Allgemeinplätze. Partizipation erwächst aus der konkreten Beziehung. Wenn wir die Erfahrung der Gleichzeitigkeit kreativ in die Gottesdienstkonzeption einbeziehen wollen (aktuelle Informationen,
tagespolitische Herausforderungen usw.) müssen wir die entsprechenden Vermittlungsprozesse planen. Interesse an einer Sache und Engagement für eine wichtige Frage steigen mit dem Grad der
Partizipation. Ich erinnere mich noch gut an einen Abend mit unserer Gottesdienstgruppe. Stephan hatte uns zu einem vornehmen Abendessen in das Gemeindehaus eingeladen. Wir sollten nicht so viel
vorher essen, meinte er noch. In einem der Räume war das Essen angerichtet, aber niemand durfte den Raum betreten. Zuerst kam die Einleitung zum Thema Hunger und Armut in der damals noch sogenannten
„Dritten Welt“. Dann zogen wir Zettel und der Raum wurde geöffnet. Links stand eine festlich geschmückte Tafel mit Kerzen und einem opulenten Mahl, rechts fand die Gruppe aus der „Dritten-Welt“ einen
Topf mit Reis. In dieser Szene, die nun doch mehr als gespielt, sondern konkret erfahren wurde, entspannen sich lebhafte Gespräche über „Hunger“, „Abgeben“, „Teilhabe“. Besser konnte man das
„Hungerproblem“ kaum vermitteln!
Gemeindearbeit vollzieht sich in der Gegenwart im Spannungsfeld von Distanz und Gleichzeitigkeit. Noch nie gab es so viele Kommunikationsmöglichkeiten wie heute, aber noch nie haben sich die Menschen
so schlecht verstanden. Es sollte für die Kirche eine ungeheure Herausforderung sein, was zu sagen ist und das Leben des Menschen wesentlich betrifft, adäquat zu vermitteln.
Der Gottesdienst nach kreativen Konzepten muss also einerseits Distanz (auf kultureller und sozio-politischer Ebene, in der Sprache, den Zeichen usw.) überwinden, Pfarrer/Pfarrerin und Gemeinde,
Kerngemeinde und Kasual bzw. Festtagsgemeinde, Gottesdienstgemeinde und „Kreise/Gruppen“ miteinander vermitteln und andererseits die Gleichzeitigkeit der Welt- und Zeitprobleme berücksichtigen. Beide
Komplexe sind ineinander verschränkt. Das ist eine Chance voran zu kommen, weil immer neue, situationsbezogene Konzepte in der Gottesdienstpraxis möglich sind. Trotz einiger grundsätzlich
verabredeter Konventionen ist der Handlungsspielraum groß. Partizipation der Gemeinde ist also eigentlich im großen Umfang möglich. Kreative Gottesdienstkonzepte müssen sich daran messen lassen, wie
Distanz überwunden und die Fragen, Freuden und Probleme konkreter Menschen wahrgenommen (in seiner doppelten Bedeutung!) werden.
Die Entwicklung kreativer Konzepte in der Gottesdienstgestaltung ist bisher nur in Spuren vorangekommen. Versuche gibt es überall, aber eben selten durchstrukturierte Konzepte für eine ganze Gemeinde
für jeden Sonntag. Familiengottesdienste und Jugendgottesdienste haben es zu einiger Popularität gebracht. Aber, indem diesen Sonderveranstaltungen zugestanden wurde, anders zu sein, galt für den
„normalen“ Gemeindegottesdienst, dass er auf jeden Fall so bleiben musste wie an diesem Ort seit Jahren (oder länger!) üblich. Das möchte ich mit diesem Buch ändern!
Zwar feiern wir weiterhin den Sonntagsgottesdienst als zentrale und wichtigste Gemeindeveranstaltung, aber wir tun wenig, um ihn wirklich zu einer „Gemeinde“-Veranstaltung zu machen. Mehr oder
weniger prägt gerade diese öffentlichkeitswirksamste Veranstaltung der Kirche weiterhin die Kirche als „Pastorenkirche“. Denn, wer in der Gemeinde die „Hauptrolle spielt“, das ist doch jedem jeden
Sonntag deutlich vor Augen.
Einer Veränderung der Gottesdienstpraxis steht weniger die Gemeinde im Wege. Wer sich hier gern in den vorgesehenen Gleisen bewegt, das ist doch wohl der Pfarrer, die Pfarrerin. Ich gebe zu, das
Normale ist das Einfache - es läuft fast von selbst. Die Beziehungen sind eingespielt, dem Organisten genügt ein Blick. - Und dann ist da noch das Überlastungsargument. Es passt eben alles
zusammen.
Ich setze dieser resignativen Grundhaltung ein kreatives Konzept entgegen, das den Menschen missionarisch-kommunikativ in den Gottesdienst einbezieht. Die Veränderung der Gottesdienstpraxis ist in
erster Linie kein Strukturproblem. Die Grundstrukturen des Gottesdienstes sind in knapp zweitausend Jahren nahezu unverändert geblieben, weil sie auch den Gottesdienst als Gottesdienst definieren.
Wir haben diese Fragen bereits beim Agende 1-Gottesdienst angeschnitten:
1. Bibeltexte lesen
2. Auslegung / Verkündigung
3. Gebete
4. Lieder
5. Zeichen / Visualisierungen
6. Zeugnisse / Erfahrungsberichte / Informationen.
Um diese Elemente lassen sich eine Fülle kreativer Ideen gruppieren. Wir müssen also nicht das Grundschema unserer Liturgie ändern, um einen kreativen Gottesdienst zu gestalten, sondern Konzepte
entwickeln, die das Evangelium visualisieren, zur Partizipation der Gemeinde führen und die Kreativität aller am Gottesdienst Beteiligten herausfordern. Die Reihenfolge der Gottesdienstelemente ist
eigentlich nebensächlich, aber es sollte ein Spannungsbogen erzeugt werden, der keine Langeweile aufkommen lässt. Dieser Spannungsbogen sollte gut geplant sein und auch Platz für Überraschungen
enthalten. Nichts ist schlimmer als ein starres Konzept, das einfach nur abläuft und dessen Ende von den Gottesdienstteilnehmern herbeigesehnt wird. Ich nenne die Dinge hier beim Namen und versuche
sie nicht mit theologischen Floskeln zu verschleiern. Wir müssen uns im Kreativ-Team in offener Sprache austauschen und uns nicht hinter geistlichen Belanglosigkeiten verstecken, die keinem
weiterhelfen. Gerade wenn wir die Wirkung des Heiligen Geistes erwarten, sollten wir von unserer Seite das Bestmögliche tun!
copyright Christian Trebing